§ 476 – Beweislastverteilung – richtlinienkonforme Auslegung
Der BGH hat seine bisherige Rechtsprechung zur Beweislastumkehr beim Verbrauchsgüterkauf nach § 476 BGB in Reaktion auf das Urteil des EuGH in der Rechtssache Faber (C-497/13) erwartungsgemäß geändert.
Als Folge einer richtlinienkonformen Auslegung des § 476 BGB hat der unter anderem für das Kaufrecht zuständige VIII. Zivilsenat des BGH seine bisherige Rechtsprechung zur Beweislastumkehr des § 476 in seinem Urt. v. 12.10.2016 – VIII ZR 103/15 geändert.
I. Sachverhalt
Der Kläger kaufte von der Beklagten, einer Kraftfahrzeughändlerin, einen gebrauchten BMW 525d Touring zum Preis von 16.200 EURO. Nach knapp fünf Monaten und einer vom Kläger absolvierten Laufleistung von rund 13.000 Kilometern schaltete die im Fahrzeug eingebaute Automatikschaltung in der Einstellung "D" nicht mehr selbständig in den Leerlauf; stattdessen starb der Motor ab. Ein Anfahren oder Rückwärtsfahren bei Steigungen war nicht mehr möglich. Nach erfolgloser Fristsetzung zur Mangelbeseitigung trat der Kläger vom Kaufvertrag zurück und verlangte die Rückzahlung des Kaufpreises und den Ersatz geltend gemachter Schäden.
II. Prozessgeschichte und Entscheidung der Vorinstanzen
Der Kläger hatte in den Vorinstanzen keinen Erfolg. Sowohl das LG als auch das OLG waren – im Einklang mit dem bisherigen Verständnis des § 476 BGB durch den BGH – übereinstimmend der Auffassung, dass der Kläger den ihm obliegenden Beweis, dass das Fahrzeug bereits bei seiner Übergabe einen Sachmangel aufgewiesen habe, nicht erbracht habe. Zwar habe der gerichtliche bestellte Sachverständige (vgl. §§ 402 ff. ZPO) festgestellt, dass die aufgetretenen Symptome auf eine zwischenzeitlich eingetretene Schädigung des Freilaufs des hydrodynamischen Drehmomentwandlers zurückzuführen sei. Auch sei es nach den Ausführungen des Sachverständigen grundsätzlich möglich, dass der Freilauf schon bei der Übergabe des Fahrzeugs mechanische Veränderungen aufgewiesen habe, die im weiteren Verlauf zu dem eingetretenen Schaden geführt haben könnten. Nachgewiesen sei dies jedoch nicht. Vielmehr komme als Ursache auch eine Überlastung des Freilaufs durch einen Bedienungsfehler des Klägers nach Übergabe in Betracht.
II. Sachproblem und dessen bisherige Lösung durch den BGH
a. Sachproblem
Situationen wie die vorliegende treten Recht häufig auf. Sowohl die vom Kläger begehrte Rückzahlung des Kaufpreises als auch der erstrebte Schadensersatz hängen, wie insbesondere § 437 BGB deutlich macht, davon ab, ob der Kaufgegenstand im Zeitpunkt des Gefahrübergangs (§ 434 BGB; regelmäßig also im Zeitpunkt der Übergabe, § 446 BGB) mangelhaft war.
In der Praxis steht zwar häufig fest, dass der nunmehr konkrete Mangel bei Gefahrübergang noch nicht vorlag. Unklar und zwischen den Parteien zumeist streitig ist hingegen, der nunmehr konkrete Mangel auf einen Grundmangel, welcher bereits bei Gefahrübergang vorlag, zurückzuführen ist. Ein solcher Grundmangel würde zur Bejahung eines Sachmangels ausreichen.
So lag es auch im vorliegenden Fall: Unstreitig lag der jetzige Defekt der Schaltung bei Übergabe des BMW an den Kläger nicht vor. Anderenfalls hätte er nicht monatelang das Kfz rund 13.000 Kilometer bewegen können. Zwischen den Parteien streitig und auch durch Einholen eines eines Sachverständigen nicht aufzuklären ist demgegenüber, ob die jetzt vorliegende Schädigung des Freilaufs auf einen bereits bei Übergabe vorliegende mechanischen Veränderung des Freilaufs zurückzuführen ist.
In derartigen Situationen eines non liquet kommt der Beweislast eine entscheidende Bedeutung zu. Trägt diese der Kläger, so wird er mit seiner Klage unterliegen. Hat hingegen der Beklagte die Vertragsmäßigkeit der Kaufsache im Zeitpunkt des Gefahrübergangs zu beweisen, wird der Kläger mit seiner Klage durchdringen.
Im Grundsatz hat der Kläger die Mangelhaftigkeit der Kaufsache im Zeitpunkt des Gefahrübergangs nachzuweisen, da es sich insoweit um eine anspruchsbegründende Tatsache handelt. Eine Umkehr von dieser Beweislastverteilung enthält § 476 BGB, welcher der Umsetzung von Art. 5 Abs. 3 der Verbrauchsgüterkaufrichtlinie dient.
In § 476 BGB ist in vermeintlicher Klarheit geregelt:
"Zeigt sich innerhalb von sechs Monaten seit Gefahrübergang ein Sachmangel, so wird vermutet, dass die Sache bereits bei Gefahrübergang mangelhaft war, es sei denn, diese Vermutung ist mit der Art der Sache oder des Mangels unvereinbar."
Art. 5 Abs. 3 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie lautet:
"Bis zum Beweis des Gegenteils wird vermutet, daß Vertragswidrigkeiten, die binnen sechs Monaten nach der Lieferung des Gutes offenbar werden, bereits zum Zeitpunkt der Lieferung bestanden, es sei denn, diese Vermutung ist mit der Art des Gutes oder der Art der Vertragswidrigkeit unvereinbar."
b. Bisherige Auslegung des § 476 BGB durch den BGH
Nach der mit dem Wortlaut des § 476 BGB anders als mit dem Wortlaut von Art. 5 Abs. 3 Verbrauchsgüterkaufrichtlinie kaum in Einklang zu bringenden (vgl. Faust, in: BeckOK BGB, § 476 BGB Rn. 10, 12) bisherigen Rechtsprechung des BGH soll § 476 BGB die aufgezeigt Problemkonstellation nicht umfassen (vgl. etwa BGHZ NJW 2004, 2299; NJW 2005, 3490, 3492; 2006, 434 Rn. 21; aus dem nichteinheitlichen Schrifttum etwa Frassek, JR 2005, 204; Wertenbruch, LMK 2004, 156; Höpfner, ZGS 2007, 410, 412; Witt, ZGS 2007, 386, 388 f.). Vielmehr sollte § 476 BGB lediglich eine in zeitlicher Hinsicht wirkende Vermutung dahingehend begründen, dass ein innerhalb von sechs Monaten ab Gefahrübergang aufgetretener Sachmangel bereits im Zeitpunkt des Gefahrübergangs vorgelegen habe. Nicht vermutet werde hingegen, ob überhaupt ein Mangel vorliege. Wenn daher nicht aufklärbar sei, dass der jetzige Mangel auf einen Grundmangel der Kaufsache im Zeitpunkt des Gefahrübergangs zurückzuführen sei, gehe dies zu Lasten des Käufers. Könne der Käufer allerdings beweisen, dass der innerhalb der Frist auftretende Mangel auf eine bestimmte Ursache zurückgehe, die ihrerseits einen Mangel darstellt, falls sie bei Gefahrübergang vorgelegen hat ("latenter Mangel"), so greife § 476 hinsichtlich dieses latenten Mangels ein (BGH NJW 2014, 1086 Rn. 18 ff.).
In Anwendung auf den hiesigen Fall, wäre die Klage des Verbrauchers demnach abzuweisen gewesen: Der jetzige Mangel in Gestalt der Blockade des Freilauf, lag offensichtlich nicht vor; hinsichtlich der Existenz eines Grundmangels im Zeitpunkt des Gefahrübergangs besteht hingegen ein non liquet. Beweisbelastet ist nach allgemeinen Grundsätzen der Kläger.
III. Jetzige Entscheidung des BGH
Diese – mit dem Wortlaut kaum in Einklang zu bringende – Auslegung des § 476 BGB hat der BGH nunmehr aufgegeben. Fortan habe der Verbraucher
"lediglich darzulegen und nachzuweisen, dass die erworbene Sache nicht den Qualitäts-, Leistungs- und Eignungsstandards einer Sache entspreche, die er zu erhalten nach dem Vertrag vernünftigerweise erwarten konnte."
In richtlinienkonformer Auslegung des § 476 BGB lässt der BGH nunmehr die dort vorgesehene Vermutungswirkung bereits dann eingreifen,
"wenn dem Käufer der Nachweis gelinge, dass sich innerhalb von sechs Monaten ab Gefahrübergang ein mangelhafter Zustand (eine „Mangelerscheinung“) gezeigt habe."
Nicht mehr darlegen und beweisen müsse der Verbraucher fortan hingegen weder auf welche Ursache dieser Zustand zurückzuführen sei, noch dass diese in den Verantwortungsbereich des Verkäufers falle.
"Danach komme dem Verbraucher die Vermutungswirkung des § 476 BGB fortan auch dahin zugute, dass der binnen sechs Monate nach Gefahrübergang zu Tage getretene mangelhafte Zustand zumindest im Ansatz schon bei Gefahrübergang vorgelegen habe. Damit werde der Käufer – anders als bisher von der BGH-Rechtsprechung gefordert – des Nachweises enthoben, dass ein erwiesenermaßen erst nach Gefahrübergang eingetretener akuter Mangel seine Ursache in einem latenten Mangel habe."
IV. Folgen der Entscheidung
Die Entscheidung des BGH verschiebt – wie vom EuGH gewünscht – die Beweislast im Rahmen von Verbrauchsgüterkäufen erheblich auf den Verkäufer. Im Ergebnis wird damit der Schutz des Verbrauchers gestärkt. Unsicherheiten darüber, ob der jetzige Mangel als Grundmangel schon bei Gefahrübergang vorgelegen hat oder erst später – etwa durch eine fehlerhafte Bedienung – durch den Verbraucher eingetreten sei, trägt fortan der Verkäufer. Der Verkäufer habe darzulegen und zu beweisen, dass ein Grundmangel zum Zeitpunkt des Gefahrübergangs noch nicht vorhanden war, weil der jetzige Sachmangel seinen Ursprung in einem Handeln oder Unterlassen nach diesem Zeitpunkt habe und ihm damit nicht zuzurechnen sei. Gelingt ihm diese Beweisführung – also der volle Beweis des Gegenteils der vermuteten Tatsachen – nicht hinreichend, greife zu Gunsten des Verbrauchers die Vermutung des § 476 BGB auch dann ein, wenn die Ursache für den mangelhaften Zustand oder der Zeitpunkt ihres Auftretens offengeblieben sei, also letztlich ungeklärt geblieben ist, ob überhaupt ein vom Verkäufer zu verantwortender Sachmangel vorlag.
Daneben kann sich der Verbraucher darauf berufen und versuchen nachzuweisen, dass das Eingreifen der Beweislastumkehr des § 476 BGB ausnahmsweise bereits deswegen ausgeschlossen ist, weil die Vermutung, dass bereits bei Gefahrübergang im Ansatz ein Mangel vorlag, mit der Art der Sache oder eines derartigen Mangels unvereinbar sei (§ 476 BGB am Ende).