OLG Karlsruhe, Urteil vom 28.04.2017 – 9 U 189/15:
Leitsätze:
- Die abrupte Bremsung des vorausfahrenden Fahrzeugs ohne äußeren Anlass ändert bei einem Auffahrunfall grundsätzlich nichts an einem im Wege des Anscheinsbeweises festzustellenden schuldhaften Verkehrsverstoß des Hintermanns.
- Bei einem Auffahrunfall trifft den auffahrenden Fahrzeugführer in der Regel eine Haftungsquote von 100 %. Die nicht ausgeräumte Möglichkeit, dass der Vordermann eventuell vorsätzlich aus „erzieherischen Gründen“ abrupt gebremst hat, ändert daran nichts. Denn ein Verkehrsverstoß des vorausfahrenden Fahrzeugführers wäre nur dann zu berücksichtigen, wenn er nachgewiesen wäre.
Sachverhalt:
Die Kl., die ein Taxi-Unternehmen unterhält, macht Schadensersatzansprüche nach der Beschädigung eines Taxis bei einem Verkehrsunfall vom 20.12.2014 geltend. Der Bekl. war Fahrer eines am Unfall beteiligten Pkw BMW. Der Zeuge D befuhr am 20.12.2014 gegen 21.30 Uhr mit einem Taxi der Kl. die B.-Straße in S. in westlicher Richtung. Ihm folgte der Bekl. mit seinem Pkw BMW. In der Nähe einer Verkehrsinsel, die sich dort in der Mitte der Straße befindet, führte der Zeuge D eine starke Bremsung durch. Weitere Einzelheiten des Fahrmanövers sind streitig; ebenso ist streitig, inwieweit es für dieses Fahrmanöver einen verkehrsbedingten Anlass gab. Im Zusammenhang mit diesem Fahrmanöver fuhr der Bekl. mit seinem Fahrzeug auf das klägerische Taxi auf. Das Fahrzeug der Kl. wurde beschädigt. Der Kl. entstand unstreitig ein Schaden in Höhe von 11.279,16 €.
Entscheidung:
Das OLG Karlsruhe untersucht insbesondere eine Haftung des beklagten Fahrers aus den §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 S. 1 StVG. Dabei handelt es sich um eine Haftung für vermutetes Verschulden. Es obliegt dem beklagten Fahrer nach § 18 Abs. 1 S. 2 StVG sich zu entlasten und nachzuweisen, dass ihn kein Verschulden trifft. Das OLG führt hierzu nur knapp aus, dass davon auszugehen sei, "dass der Bekl. den Unfall bei gehöriger Aufmerksamkeit und/oder ausreichendem Sicherheitsabstand hätte vermeiden können".
Sodann wendet sich das OLG der nach den §§ 18 Abs. 3, 17 Abs. 2 StVG notwendigen Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge zu. Verursachungsbeiträge sind zu berücksichtigen sofern sie zulasten des jeweiligen Unfallbeteiligten nachgewiesen sind.
Der beklagte Fahrer hat den Unfall durch einen schuldhaften Verkehrsverstoß verursacht. Entweder er hat nicht den erforderlichen Sicherheitsabstand eigehalten (dann Verstoß gegen § 4 Abs. 1 S. 1 StVO oder er war unaufmerksam und hat daher sein Bremsmanöver zu spät eingeleitet (dann Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO). Diese Feststellung beruht auf den Regeln des Anscheinsbeweises ("Wer auffährt ist schuld").
„Für die Feststellung eines schuldhaften Verkehrsverstoßes des Bekl. kommt es … nicht darauf an, ob der Zeuge D sein Fahrzeug grundlos abgebremst hat. Im Straßenverkehr muss jeder Fahrzeugführer grundsätzlich damit rechnen, dass das vorausfahrende Fahrzeug plötzlich abgebremst wird, auch wenn der nachfolgende Fahrzeugführer vorher nicht sieht – und auch nicht vorhersehen kann, – dass und warum es zu einem Bremsmanöver des Vordermanns kommt (vgl. BGH, NJW-RR 2007, 680 = NZV 2007, 354; OLG Karlsruhe, NJW-RR 1988, 28 [29]; Senat, NJW 2013, 1968; Wenker, jurisPR-VerkR 12/2013, Anm. 1; Greger/Zwickel, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 5. Aufl. 2014, § 38 Rn. 87). Der Anscheinsbeweis für das Verschulden des auffahrenden Kraftfahrzeugführers wäre nur dann erschüttert, wenn im konkreten Fall der Bremsweg für den Hintermann möglicherweise verkürzt wurde; dies kommt insbesondere in Betracht bei einem Spurwechsel des Vordermanns oder bei einem Auffahren des Vordermanns auf ein stehendes Hindernis, nicht jedoch bei einem plötzlichen Bremsmanöver des Vordermanns (vgl. BGH, NJW-RR 2007, 680 = NZV 2007, 354). Soweit einzelne Gerichte eine Erschütterung des Anscheinsbeweises schon dann annehmen wollen, wenn der Vordermann grundlos stark abbremst (OLG Köln, DAR 1995, 485; OLG Frankfurt a. M., NJW 2007, 87 = NZV 2006, 372), ist dem nicht zu folgen. Die genannten Entscheidungen des OLG Köln und des OLG Frankfurt a. M. berücksichtigen nicht, dass nach einem Auffahrunfall zwischen zwei verschiedenen Varianten des Anscheinsbeweises zu unterscheiden ist, nämlich zum einen zur Feststellung eines schuldhaften Verkehrsverstoßes des Hintermanns und zum anderen zur Feststellung der Alleinschuld des Hintermanns (vgl. Senat, mit zustimmenden Anm. Wenker, jurisPR-VerkR 12/2013, Anm. 1 und Greger/Zwickel, § 38 Rn. 87; vgl. im Übrigen BGH, VersR 1969, 859 = BeckRS 1969 30398412).“
Hinsichtlich des Verursachunsbeitrags der Klägerin ist die allgemeine, einfache Betriebsgefahr eines Kfz zu berücksichtigen. Eine darüberhinaus gehender Verursachungsbeitrag und damit eine Erhöhung der Haftungsquote käme nur bei einem schuldhaften Verkehrsverstoß des Zeugen D in Betracht.
„Hingegen lässt sich ein schuldhafter Verkehrsverstoß des Zeugen D, welcher zulasten der Kl. zu berücksichtigen wäre, nicht feststellen. Dabei ist aus Rechtsgründen entscheidend, dass ein Verkehrsverstoß des Zeugen D nicht nachgewiesen ist. Ein möglicher – jedoch nicht nachgewiesener – Verkehrsverstoß kann bei der Haftungsfrage aus Rechtsgründen keine Berücksichtigung finden.
Nach dem Ergebnis der vor dem Senat durchgeführten Beweisaufnahme kann der Senat nicht feststellen, dass der Zeuge D das Taxi grundlos abgebremst hat. Es erscheint vielmehr mindestens ernsthaft möglich, dass der Zeuge D auf eine Fußgängerin reagiert hat, die sich angeschickt hat, die Fahrbahn unmittelbar vor seinem Fahrzeug zu überqueren. Daraus ergibt sich ein verkehrsbedingter Anlass für eine plötzliche starke Bremsung. Zugunsten der Kl. ist aus Beweislastgründen bei der Haftungsfrage von diesem möglichen Sachverhalt auszugehen.“
Für die Haftungsquote folgt daraus:
„Eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungsbeiträge führt zu einer vollen Haftung der Bekl. Denn dem schuldhaften Verkehrsverstoß des Bekl. (verspätete Reaktion und/oder unzureichender Abstand) steht kein nachgewiesener Verkehrsverstoß des Zeugen D gegenüber. Das Verschulden des auffahrenden Kraftfahrzeugführers ist in derartigen Fällen grundsätzlich als erheblich anzusehen, und zwar selbst dann, wenn man annimmt, dass er das Manöver des vorausfahrenden Zeugen D nicht vorhergesehen hat. Es entspricht den Grundsätzen der Rechtsprechung zur Haftung bei Verkehrsunfällen, dass in einem derartigen Fall die einfache – nicht erhöhte – Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs gegenüber dem Verkehrsverstoß des Bekl. zurücktritt."