BGH, Urteil vom 23.11.2017 – III ZR 60/16
Leitsätze:
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Die zur Badeaufsicht in einem Schwimmbad eingesetzten Personen sind verpflichtet, den Badebetrieb und damit auch das Geschehen im Wasser zu beobachten
und mit regelmäßigen Kontrollblicken darauf zu überprüfen, ob Gefahrensituationen für die Badegäste auftreten. Dabei ist der Standort so zu wählen, dass der gesamte Schwimm- und Sprungbereich
überwacht und auch in das Wasser hineingeblickt werden kann. In Notfällen ist für rasche und wirksame Hilfeleistung zu sorgen.
- Wer eine besondere Berufs- oder Organisationspflicht, andere vor Gefahren für Leben und Gesundheit zu bewahren, grob vernachlässigt hat, muss die Nichtursächlichkeit festgestellter Fehler beweisen, die allgemein als geeignet anzusehen sind, einen Schaden nach Art des eingetretenen herbeizuführen. Dies gilt auch im Fall einer grob fahrlässigen Verletzung der Verpflichtung zur Überwachung eines Schwimmbadbetriebs.
Sachverhalt:
Die 12 Jahre alte Klägerin hatte sich bei einem Besuch eines öffentlichen Naturschwimmbades unter Wasser in dem Befestigungsseil einer Markierungsboje, welche den Übergang zwischen zwei Schwimmbereichen markierte, verfangen. Nachdem die Badeaufsicht bemerkt hatte, dass sich die Boje abgesenkt hatte, befragte sie zwei Mädchen, ob sie das Befestigungsseil der Boje mit einem anderen Befestigungsseil verknotet hätten. Die Kinder verneinten dies. Daraufhin bat die Badeaufsicht einen Jungen im Alter von 13 oder 14 Jahren zur Boje zu schwimmen und die Ursache für deren Absenken herauszufinden. Als der Junge aufgrund des trüben Wassers nur "etwas Glitschiges" ausmachen konnte, holte einer der beiden Bademeister zunächst seine Schwimmbrille im Gerätehaus und stieg erst dann ins Wasser um die Boje zu überprüfen. Im Rahmen der Überprüfung fand er unter Wasser den leblosen Körper des Mädchens. Er brachte die Klägerin an Land, wo sie wiederbelebt werden konnte. Durch den langen Sauerstoffentzug erlitt die Klägerin jedoch irreparable Hirnschädigungen und ist seither schwerstbehindert und stark pflegebedürftig.
Nach dem Vortrag der Klägerin hätte der Badeaufsicht nach spätestens zwei Minuten auffallen müssen, dass sich die Boje abgesenkt hatte. Eine sofortige Rettung hätte innerhalb von einer Minute erfolgen können. Die erfolgte Rettung ist daher um mindestens drei Minuten verzögert worden.
Unklar ist, ob bei einer rechtzeitigen Rettung die schwere Hirnschädigung der Klägerin ausgeblieben wäre.
Entscheidung:
Da es sich um eine Haftung für Unterlassen handelt, konkretisiert der BGH zunächst die Pflichten der Badeaufsicht:
"Die Badeaufsicht hat zwar, wie die Vorinstanz in anderem Kontext ausgeführt hat, nicht die Verpflichtung zur lückenlosen Beobachtung eines jeden Schwimmers (KG, KG-Report 1999, 384 [385] sowie MüKoBGB/Wagner, 7. Aufl., § 823 Rn. 654). Es kann und muss im Schwimmbadbetrieb nicht jeder abstrakten Gefahr durch vorbeugende Maßnahmen begegnet werden, da eine Sicherheit, die jeden Gefährdungsfall ausschließt, nicht erreichbar ist (BGH, NJW 2000, 1946). Die Schwimmaufsicht ist jedoch verpflichtet, den Badebetrieb und damit auch das Geschehen im Wasser zu beobachten und mit regelmäßigen Kontrollblicken daraufhin zu überwachen, ob Gefahrensituationen für die Badegäste auftreten. Dabei ist der Beobachtungsort so zu wählen, dass der gesamte Schwimm- und Sprungbereich überwacht und auch in das Wasser hineingeblickt werden kann, was gegebenenfalls häufigere Standortwechsel erfordert (BGH, NJW 1980, 392 [393] und NJW 2000, 1946 [1947]; KG, KG-Report 1999, 384 [385]; OLG Koblenz, OLG-Report 2001, 50 [53]; BeckOK BGB/Förster, 15.6.2017, § 823 Rn. 547; MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 654; vgl. auch Nr. 5 der Richtlinie R 94.05 der Deutschen Gesellschaft für das Badewesen e. V. zur Verkehrssicherungs- und Aufsichtspflicht in öffentlichen Bädern während des Badebetriebs idF von Februar 2008). Das BerGer. wird Feststellungen dazu zu treffen haben, ob bei Anwendung dieser Maßstäbe das Absinken der Boje, in deren Seil sich die Kl. verfangen hatte, ihrem Vortrag entsprechend innerhalb von ein bis zwei Minuten hätte bemerkt werden müssen.
Zu den Aufgaben der Aufsichtspersonen in einem Schwimmbad gehört es weiter, in Notfällen für rasche und wirksame Hilfeleistung zu sorgen (OLG Saarbrücken, VersR 1994, 60 [61] = BeckRS 1993, 03790; vgl. auch MüKoBGB/Wagner, § 823 Rn. 654). Die Auffassung des BerGer., eine „sofortige eigene Handlungspflicht“ der Bekl. zu 1 und 2 sei durch die abgesenkte Boje nicht begründet worden, wird dem Pflichtenkreis der Aufsichtspersonen in einem Schwimmbad nicht gerecht. Vielmehr hätte der Umstand, dass eine der Bojen jedenfalls teilweise unter die Wasseroberfläche geraten war, die Badeaufsicht dazu veranlassen müssen, sogleich selbst die Ursache hierfür zu klären und die Kl. zu retten. Dies gilt unabhängig davon, ob – was zwischen den Parteien streitig ist – die schwimmende Markierung nur ein wenig herabgezogen war, oder sie sich vollständig unter Wasser befand, da sie auch nach dem Beklagtenvortrag jedenfalls so weit heruntergezogen worden war, dass dies die Aufmerksamkeit der Bekl. zu 1 erregte. Der Aufsicht hätte gerade im Hinblick auf die vergleichsweise lockere Verbindung der Boje mit der Befestigung am Schwimmbadgrund bewusst sein müssen, dass die Absenkung der Boje auch durch einen in Not geratenen Badegast verursacht worden sein konnte. Dass in der Vergangenheit Befestigungsseile bereits häufiger von Kindern und Jugendlichen zusammengeknotet worden und die Schwimmkörper dadurch ganz oder teilweise unter die Wasseroberfläche geraten waren, rechtfertigte es nicht, davon abzusehen, sofort selbst die Situation zu klären. Da die abgesenkte Boje jedenfalls auch auf eine in Lebensgefahr befindliche Person hindeuten konnte, mithin höchste Güter auf dem Spiel standen, war die Badeaufsicht der Bekl. zu 3 auch dann zu einem sofortigen eigenen Eingreifen verpflichtet, wenn sich in der Vergangenheit die Ursache herabgezogener Schwimmkörper im Nachhinein immer wieder als vergleichsweise harmlos herausgestellt hatte und keine besondere Eile geboten gewesen war.
Nachdem die Auffälligkeit der Boje bemerkt worden war, hätte sich daher jedenfalls einer der Bekl. zu 1 und 2 sofort selbst in das Wasser begeben müssen. Das Vorgehen, stattdessen zunächst zwei in der Nähe befindliche Mädchen zu befragen und sodann auf die Hilfe eines 13- oder 14-jährigen Jungen zurückzugreifen, den die Bekl. zu 1 bat, zu der Boje zu schwimmen und nach dem Befestigungsseil zu tauchen, war deshalb pflichtwidrig, zumal Letzterer hierdurch seinerseits einer Gefahr ausgesetzt wurde. Dies gilt auch für das Verhalten des Bekl. zu 2, der sich erst in das Wasser begab, nachdem er seine Schwimmbrille aus dem Gerätehaus geholt hatte. War die Schwimmbrille zur Rettung von in Not geratenen Personen erforderlich, hätte er sie ständig bei sich führen müssen."
Gelingt trotz dieser Konkretisierung des Pflichtenkatalogs der Badeaufsichtspersonen der Kausalitätsnachweis zwischen Pflichtverletzung und Schaden nicht, greift nach Auffassung des BGH eine Beweislastumkehr ein. Zur Begründung dieser Beweislastumkehr greift der BGH auf die von ihm entwickelten Grundsätze des Arzthaftungsrechts zurück. Dort wird bei einem groben Behandlungsfehler dessen Kausalität für den Schaden bekanntermaßen vermutet, sodass den Schädiger die Beweislast für eine Nichtkausalität trifft (vgl. nun auch § 630h Abs. 5 BGB).
"Wegen der Vergleichbarkeit der Interessenlage gelten die vorgenannten Beweisgrundsätze entsprechend bei grober Verletzung sonstiger Berufs- oder Organisationspflichten, sofern diese, ähnlich wie beim Arztberuf, dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer dienen. Wer eine besondere Berufs- oder Organisationspflicht, andere vor Gefahren für Leben und Gesundheit zu bewahren, grob vernachlässigt hat, kann nach Treu und Glauben die Folgen der Ungewissheit, ob der Schaden abwendbar war, nicht dem Geschädigten aufbürden. Auch in derartigen Fällen kann die regelmäßige Beweislastverteilung dem Geschädigten nicht zugemutet werden. Der seine Pflichten grob Vernachlässigende muss daher die Nichtursächlichkeit festgestellter Fehler beweisen, die allgemein als geeignet anzusehen sind, einen Schaden nach Art des eingetretenen herbeizuführen"
Zusammenfassung und Einordnung:
Der BGH hält an seiner bisherigen Linie fest und konkretisiert diese weiter. Eine Beweislastumkehr für den Kausalitätsnachweis ist anzunehmen, wenn eine besondere Berufspflicht grob verletzt wurde, die dem Schutz von Leben und Gesundheit anderer dient und der Behandlungsfehler grundsätzlich geeignet ist, eine Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen.
Nach dem BGH obliegt zunächst dem Kläger der Vollbeweis der Kausalität. Ihm obliegt in Unterlassensfällen der Nachweis, dass sein Schaden bei pflichtkonformem Verhalten des Beklagten ausgeblieben wäre. Dazu hat das Gericht den Pflichtenkatalog festzustellen, anhand dessen zu prüfen ist, ob bei pflichtgemäßem Verhalten des Anspruchsgegners kein Schaden eingetreten wäre. Gelingt dem Kläger der Nachweis der Kausalität nicht, ist eine Beweislastumkehr in Betracht zu ziehen. Bei grober Verletzung beruflicher Auffsichtspflichten zum Schutz des Lebens und der Gesundheit, besteht eine Beweislastumkehr. Ist nach den Erwägungen der Tatsacheninstanz einfache Fahrlässigkeit anzunehmen, besteht zugunsten des Geschädigten ist eine Beweiserleichterung für die Schadensursächlichkeit der Pflichtverletzungen. Für Fälle der Verletzung von Aufsichts- und Überwachungspflichten besteht nach Auffassung des BGH eine tatsächliche Vermutung für die Kausalität, „wenn eine ordnungsgemäße Beaufsichtigung an sich geeignet gewesen wäre, den Schaden zu verhindern, bzw. sich gerade diejenige Gefahr verwirklicht hat, der durch die verletzte Verhaltenspflicht begegnet werden sollte“.