BGH, Urt. v. 9.2.2018 – V ZR 311/16
Sachverhalt (vereinfacht):
Die Eheleute R sind Eigentümer eines Wohnhauses. Am 08.12.2011 führte ein Dachdecker D in ihrem Auftrag am Flachdach des Hauses Reparaturarbeiten durch. Im Verlauf der mit Hilfe eines Brenners durchgeführten Heißklebearbeiten verursachte D schuldhaft die Entstehung eines Glutnestes unter den aufgeschweißten Bahnen. Am Abend bemerkten die Eheleute R Flammen in dem Bereich, in dem der Dachdecker gearbeitet hatte. Der alarmierten Feuerwehr gelang es nicht, das Haus zu retten. Es brannte vollständig nieder. Durch den Brand und die Löscharbeiten wurde das an das brennende Haus unmittelbar angebaute Haus der Nachbarin N erheblich beschädigt. Das Haus der Nachbarin ist bei der Klägerin versichert. Diese hat ihr eine Entschädigung geleistet und verlangt nun (über das Vermögen des zur Zahlung von 97.801,29 Euro verurteilten Dachdeckers ist das Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnet) von den Eheleuten R übergegangenem Recht gemäß § 86 Abs. 1 VVG Ersatz.
Verfahrensgang:
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hatte keinen Erfolg. Nach Ansicht des Oberlandesgerichts sind die Beklagten nicht zum Ersatz verpflichtet. Eine Haftung aus unerlaubter Handlung scheide aus, da keine Anhaltspunkte bestünden, dass ihre Rechtsvorgänger den Dachdecker nicht sorgfältig ausgewählt hätten. Der Klägerin stehe gegen die Beklagten auch kein verschuldensun- abhängiger nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch analog § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB zu. Voraussetzung hierfür wäre, dass die damaligen Grundstückseigentümer Störer i.S.v. § 1004 Abs. 1 BGB seien. Dies sei jedoch nicht der Fall. Die Eheleute R hätten mit der sorgfältigen Auswahl des Dachdeckers alles Erfor- derliche getan, um das Risiko eines Brandschadens im Zuge der Dachdeckerarbeiten auszuschließen.
Entscheidung des BGH:
Die Revision der Klägerin war erfolgreich. Der BGH hat das Urteil des Oberlandesgerichts aufgehoben und entschieden, dass der Klägerin gegen die Beklagten ein verschuldensunabhängiger nachbarrechtli- cher Ausgleichsanspruch in entsprechender Anwendung von § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB i.V.m. § 86 Abs. 1 Satz 1 VVG zusteht.
Nach Auffassung des BGH ist ein nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch nach ständiger Rechtspre- chung des BGH gegeben, wenn von einem Grundstück im Rahmen privatwirtschaftlicher Benutzung rechtswidrige Einwirkungen auf ein anderes Grundstück ausgehen, die der Eigentümer oder Besitzer des betroffenen Grundstücks nicht dulden muss, aus besonderen Gründen jedoch nicht unterbinden kann, sofern er hierdurch Nachteile erleidet, die das zumutbare Maß einer entschädigungslos hinzuneh- menden Beeinträchtigung übersteigen. Hiervon sei auszugehen, wenn ein Brand auf ein fremdes Grund- stück übergreife, da der Nachbar die Gefahr in aller Regel nicht erkennen und die Einwirkungen auf sein Grundstück daher nicht rechtzeitig abwehren könne.
Weitere Voraussetzung des nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruchs sei, dass der Anspruchsgegner als Störer i.S.d. § 1004 Abs. 1 BGB zu qualifizieren sei. Hierfür sei erforderlich, dass die Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks wenigstens mittelbar auf den Willen des Eigentümers oder Besitzers zurück- gehe. Ob dies der Fall sei, könne nur in wertender Betrachtung von Fall zu Fall festgestellt werden. Ent- scheidend sei, ob es jeweils Sachgründe gebe, dem Grundstückseigentümer oder -besitzer die Verant- wortung für ein Geschehen aufzuerlegen. Dies habe der BGH in früheren Entscheidungen beispielswei- se bejaht, wenn ein Haus infolge eines technischen Defekts seiner elektrischen Geräte oder Leitungen in Brand gerate oder Wasser infolge eines Rohrbruchs auf das Nachbargrundstück gelange. Hierdurch verursachte Störungen stellten kein allgemeines Risiko dar, das sich – wie etwa ein Blitzschlag – ebenso gut bei dem Haus des Nachbarn hätte verwirklichen können und dessen Auswirkungen von dem jeweils Betroffenen selbst zu tragen seien. Auch wenn konkret kein Anlass für ein vorbeugendes Tätigwerden bestanden haben mag, beruhten sie auf Umständen, auf die grundsätzlich der Grundstückseigentümer bzw. -besitzer, und nur dieser, Einfluss nehmen konnte.
Auch im vorliegenden Fall hat der BGH die Störereigenschaft bejaht. Der Annahme einer Verantwortlich- keit der Rechtsvorgänger der Beklagten stehe nicht entgegen, dass der Brand auf die Handlung eines Dritten, nämlich auf die Arbeiten des von ihnen mit der Vornahme einer Dachreparatur beauftragten Handwerkers zurückzuführen sei. Mittelbarer Handlungsstörer sei auch derjenige, der die Beeinträchti- gung des Nachbarn durch einen anderen in adäquater Weise durch seine Willensbetätigung verursache. Für die Zurechnung des durch den Handwerker herbeigeführten gefahrträchtigen Zustands des Grund- stücks komme es nicht darauf an, ob die Rechtsvorgänger der Beklagten bei der Auswahl des Handwer- kers Sorgfaltspflichten verletzt haben. Maßgeblich sei vielmehr, ob es Sachgründe gebe, die aufgetre- tene Störung ihrem Verantwortungsbereich zuzurechnen. Das sei der Fall. Die Rechtsvorgänger der Be- klagten waren diejenigen, die die Vornahme von Dacharbeiten veranlasst haben und die aus den be- auftragten Arbeiten Nutzen ziehen wollten. Dass sie den Handwerker sorgfältig ausgesucht und ihm die konkrete Ausführungsart nicht vorgeschrieben haben, ändere nichts daran, dass sie mit der Beauftra- gung von Dacharbeiten eine Gefahrenquelle geschaffen haben und damit der bei der Auftragsausfüh- rung verursachte Brand auf Umständen beruhte, die ihrem Einflussbereich zuzurechnen seien.
Die Sache wurde an das Oberlandesgericht zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Dieses hat zu klären, ob der geltend gemachte Anspruch der Höhe nach berechtigt ist.
Bemerkung:
I. Verschuldensabhängige Ansprüche
Da die R hinsichtlich der Brandverursachung kein eigenes Verschulden trifft, scheiden verschuldensabhängige Ansprüche (bspw. aus §§ 823 ff. BGB) aus.
§ 831 BGB scheidet aus, weil sich die R insoweit exkulpiert hat.
Eine vertragliche oder vertragsähnliche Beziehung zwischen R und dem Nachbarn bestand nach herrschender Rspr. und Meinung in der Literatur nicht. Das „nachbarschaftliche Gemeinschaftsverhältnis“ begründet kein Schuldverhältnis im Sinne von § 280 I BGB, weil dieses Verhältnis die eigene Rechtsausübung beschränkt, aber keine weitergehenden Rechte und Pflichten begründet.
So hat der BGH in einer Entscheidung aus dem Jahre 2001 etwa ausgeführt:
„Er [der Gedanke der Mitverantwortung] ist die Folge der Anwendung des Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB), der auch im Nachbarrecht gilt. Aus ihm hat das RG das so genannte nachbarrechtliche Gemeinschaftsverhältnis entwickelt; der BGH hat diese Rechtsprechung übernommen und weitergebildet. Zwar ergeben sich, wie der Senat in ständiger Rechtsprechung immer wieder betont hat, die Rechte und Pflichten von Grundstücksnachbarn in erster Linie aus den gesetzlichen Bestimmungen des Nachbarrechts [§§ 906 ff. BGB]; sie haben dort eine ins Einzelne gehende Sonderregelung erfahren. Deshalb begründet der Gedanke von Treu und Glauben keine selbstständigen Ansprüche, sondern wirkt sich hauptsächlich als bloße Schranke der Rechtsausübung aus. Aus dem nachbarrechtlichen Gemeinschaftsverhältnis entspringt nämlich die Pflicht zu gesteigerter gegenseitiger Rücksichtnahme, die in Ausnahmefällen dazu führen kann, dass die Ausübung gewisser aus dem Eigentum fließender Rechte ganz oder teilweise unzulässig wird.“ (BGH NJW 2001, 3119 (3120 f.))
In Ermangelung eines Schuldverhältnisses scheidet auch eine Haftung der R für das Verschulden des D nach Maßgabe der §§ 280, 278 BGB aus.
II. § 906 II 2 BGB
Daher kommt letztlich nur ein verschuldensunabhängiger Anspruch in Betracht. Ein solcher folgt nach Auffassung des BGH vorliegend aus § 906 II 2 BGB.
§ 906 II 2 BGB gewährt demjenigen Grundstückseigentümer gegen den Störer einen Anspruch auf angemessenen Ausgleich in Geld, der eine wesentliche Beeinträchtigung seines Grundstücks durch die Zuführung unwägbarer Stoffe durch ein anderes Grundstück nach § 906 II 1 BGB dulden muss und die Beeinträchtigung über das zumutbare Maß hinausgeht.
Ein unmittelbare Anwendung des § 906 II 2 BGB scheidet hier aus mehreren Gründen aus:
Erstens war N nicht nach § 906 II 1 BGB verpflichtet, das Feuer zu dulden; eine rechtliche Duldungspflicht bestand nicht. Zweitens erfasst § 906 BGB nur die Zuführung unwägbare Stoffe, aber keine Grobimmissionen wie etwa Feuer oder den Austritt von Wasser.
III. § 906 II 2 BGB analog
Der BGH hat den Anwendungsbereich des § 906 II 2 BGB in den letzten Jahrzehnten aber in ingesamt drei Richtungen durch Analogien deutlich erweitert und so einen allgemeinen nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch kreiert.
1. Analogie: Ein Anspruch analog § 906 II 2 BGB kommt in Betracht, wenn der Grundstückseigentümer aus besonderen Gründen gehindert war, die Einwirkung auf sein Grundstück gemäß § 1004 I BGB zu unterbinden. Das ist etwa dann der Fall, wenn der Eigentümer unverschuldet die Beeinträchtigung faktisch dulden muss, weil er seinen Abwehranspruch nicht rechtzeitig geltend machen kann. Das hat der BGH in der Vergangenheit bspw. bejaht für einen umstürzenden Baum, einen übergreifenden Brand oder einen Wasserrohrbruch.
2. Analogie: Auch hat der BGH angenommen, dass der Anspruch aus § 906 II 2 BGB nicht beschränkt sei auf Fälle der Zuführung unwägbarer Stoffe, sondern auch auf Grobimmissionen (bspw. Feuer, Wasser) Anwendung finde.
3. Analogie: Schließlich kann der Anspruch nicht nur Grundstückseigentümern zustehen, sondern auch einem berechtigten Besitzer (regelmäßig der Mieter), der seinen Unterlassungsanspruch nach § 862 BGB nicht geltend machen konnte.
Rechtsfolge: Liegen die Voraussetzungen einer analogen Anwendung des § 906 II 2 BGB vor, kann der Anspruchsinhaber einen angemessenen Ausgleich in Geld fordern. Ihm steht kein („echter“) Schadensersatzanspruch im Sinne von §§ 249 ff. BGB zu, vielmehr kann er (lediglich) einen nach den Grundsätzen der Enteignungsentschädigung zu bestimmenden Ausgleich verlangen, wonach der unzumutbare Teil der Beeinträchtigung auszugleichen ist.
Fazit:
Bei dem nachbarrechtlichen Entschädigungsanspruch analog § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB handelt es sich um einen aus dem Grundstückseigentum (§ 903 BGB) abgeleiteten Anspruch. Entsprechend bedarf es eines qualifizierten Bezugs zum Eigentumsrechts für die Beantwortung der Frage, ob der betroffene Nachbar eine Entschädigung verlangen kann. Diesen Bezug sollte man nicht soweit ziehen, dass auch störende Verhaltensweisen, die zwar auf dem Grundstück und damit dem Bezugsobjekt des Eigentumsrechts stattfinden, genügen. Anderenfalls würde das Grundeigentum über die Maßen eingeschränkt. Beispiele wären etwa die Brandstiftung durch Dritte oder Feuerwerk, welches vom Grundstück aus abgeschossen wird.
Beauftragt der Grundstückseigentümer einen Handwerker, stellt sich die Frage, ob die Handwerkstätigkeit einem Handeln gleichzustellen ist, das nur aus Anlass des Aufenthalts auf dem Grundstück vorgenommen wird, oder ob der Eigentümer trotz sorgfältiger Auswahl dem Nachbarn für einen Schaden haftet, den der Handwerker schuldhaft verursacht. Dies bejaht der BGH mit dem – wenig überzeugenden – Argument, dass sich die Störung dem Verantwortungs- und Einflussbereich der Hauseigentümer zurechnen lässt. Sie haben die Dacharbeiten veranlasst und kamen auch ihnen zugute. Damit etabliert der BGH über den nachbarrechtlichen Entschädigungsanspruch eine im Gesetz nicht vorgesehene Gefährdungshaftung für Schäden in nachbarrechtlichen Verhältnissen. Hauseigentümer sollten sich daher zukünftig vom Handwerker eine diesbezügliche Versicherung nachweisen lassen oder sich selbst entsprechend versichern.